
Photo by Universal Pictures
Ich war noch nie Trendsetterin und ich war noch nie Mitläuferin. Für gewöhnlich finde ich erst Gefallen an vormals modernen Dingen, wenn sie schon nicht mehr Trend sind. Das war bei Röhrenjeans und Ballerinas so und vermutlich werde ich „Pokemons“ erst in 10 Jahren jagen oder wahrscheinlich eher niemals. Die Kultserie „Sex and the City“ begann ich erst zu schauen, als die Serie auch in Deutschland schon seit drei Jahren über den Bildschirm lief. Zum Teil ist das sehr vorteilhaft. Viele schöne unbekannte Dinge, von denen ich noch nicht viel mitbekommen habe, dürften noch vor mir liegen. Viele Trends dürften schlichtweg an mir vorbeigegangen sein. Dabei bin ich einerseits überhaupt nicht anfällig für Hype-Bewegungen, oftmals aber auch einfach sehr genervt von ihnen. Einen bewussten Verweigerungs-Protest aber übe ich nicht aus. Einerseits ist mein Interesse für neuartige Entwicklungen vermutlich im Vergleich zu manchen anderen Menschen eher begrenzt. Zugleich aber bin ich häufig maximal genervt von ekstatischen Hype-Bewegungen jedweder Art, die mit der Sache an sich gar nicht mehr so viel zu tun haben, wie man meinen könnte.
Den Hype um die Bücher und Filme der „Shades of Grey“- Reihe habe ich wahrgenommen. Wie immer löste diese Bewegung kein weitergehendes Interesse bei mir aus.
Im April 2017 aber lief der Streifen nun im TV auf RTL, was ich zufällig mitbekam. Nun konnte ich auf bequeme Art und Weise meine Wissenslücke schließen und ein wenig neugierig war ich schon, ob denn angesichts der maximalen Beliebtheit nicht doch irgendetwas Nettes am Film dran ist. Doch schon nach wenigen Minuten sollte ich bitterer enttäuscht werden, als ich es annahm. Dabei muss man wissen, dass ich bin eine große Filmliebhaberin bin, quer durch viele Genres, ich schaue gerne Independent-Arthouse-Filme, aber auch klassische Blockbuster. Nur, weil etwas Mainstream ist, lehne ich dies nicht zwanghaft ab. Viele Mainstream-Dinge gefallen auch mir. Nicht immer erwarte ich von einem Film, dass er mich tief bewegt und meine Synapsen intellektuell zum Tanzen bringt.
Doch das, was ich hier zu sehen bekam, empfand ich als so schlecht, wie kaum etwas anderes, das ich je gesehen habe. Ein Liebes-Film voller peinlicher Klischees in der Beziehung zwischen Mann und Frau bereits zu Beginn des Films, als die S-M-Thematik noch gar nicht in Erscheinung trat. In Erinnerung geblieben ist mir hier vor allem eine Szene, in der die junge Studentin bereits beim ersten Treffen mit dem erfolgreichen Geschäftsmann in einer zwanghaft sauber-sterilen Business-Umgebung im 80sten Stockwerk eines Phallus-Gebäudes in Sekundenschnelle zu einem verschüchterten Mädchen mutiert, das kaum noch ein Wort herausbringt, während der vor ihr stehende überlegene Mann durch die ihm entgegengebrachte Vergötterung narzisstisch triumphiert. Während des gesamten Films entstand und perseverierte bei mir vor allem ein Gefühl: das des Fremdschämens. Fremdschämen – nicht etwa für die thematisierte S-M-Sexualität, diese findet im Film so gut wie gar nicht bzw. eher in der Theorie statt – sondern mein Fremdschämen galt neben diesem schlecht gemachten Film, der klischeehaften Unterwerfung dieser Frau, im Film mit Liebesfähigkeit verwechselt. Immerhin emanzipiert sie sich am Ende des Films, ich fürchte aber, nicht um der Emanzipation willen, sondern um die Liebesgeschichte fortsetzen zu können.
Doch dieser Beitrag soll keine Filmkritik werden.
Als ich nach Anschauen des Films dachte, schlimmer kann es nicht kommen und viel mehr an Fremdschämen ist mir nicht möglich, zeigt RTL im Anschluss an den Film noch die Doku „Fifty Shades of Grey und die Wirklichkeit“, welche ich mir ebenfalls in voller Länge zugeführt habe.
Gezeigt werden verschiedene (nicht so sexy wie Grey und Ana) Pärchen, die beispielswese einer Domina, die S-M-Teaching (Unterricht) als Dienstleistung anbietet, im speziellen S-M-Studio einen Besuch abstatten und Schritt für Schritt einzelne Rollenspiele in „Trockenform“ durchführen können. Dabei sagt die Domina dann immer wieder Dinge wie diese: „Ja, das hast du schon gut gemacht. Jetzt kannst du ihr vielleicht einmal einen Klaps auf den Po geben.“ Gezeigt wird auch ein Pärchen – oder hier eher der weibliche tonangebende Part dieses Pärchens – welches für sich beansprucht, größter Fifty-Shades-Fan ever zu sein. Man kennt jedes Detail, hat diverse Fan-Artikel in der Wohnung sorgsam positioniert und nun die Krönung, eine „Fifty-Shades-Reise“ in die USA, angetreten, in dessen Rahmen man einzelne Drehorte des Films und Orte, die irgendwas mit diesem zu tun haben, besuchen kann. Beim Hubschrauberflug über Seattle als Höhepunkt der Reise gerät der weibliche Part des Pärchens in einen emotionalen Zustand von tiefer Ergriffenheit über das besondere Erlebnis und die „Nähe“, die sie nun zu den Protagonisten des Films zu erleben glaubt. Was die Pärchen privat in ihren Betten oder anderswo treiben, bleibt- anders als der Titel der Doku suggeriert- Gott sei Dank unerwähnt. Auch vermittelt die Dokumentation keine Informationen über gelebte S-M-Sexualität in Deutschland oder anderswo.
Kein Ansturm auf Baumärkte in Deutschland
Doch wie sieht diese eigentlich aus? Sind Fifty Shades und Sadomasochismus in deutschen Wohnzimmern angekommen und mittlerweile Mainstream? Die Verkaufszahlen an Büchern, die Besucherzahlen der Kinofilme, Verkaufszahlen von speziellem S-M-Sexspielzeug sowie auch die steigende Nachfrage an speziellen Teachings (letztere zumindest in den USA massiv angestiegen) scheinen dies zunächst nahezulegen. Oder handelt es sich eher um ein steigendes Interesse an der Thematisierung sexueller Inhalte und Variationen generell, zumindest bei den allermeisten Fifty-Shades-Begeisterten und nur bei einer Minderheit wurden S-M-Vorlieben „geweckt“? Oder handelt es sich schlichtweg vorwiegend um ein Interesse an einer „großen“ Liebesgeschichte?
Zwar träumen nach einer Umfrage der Partner- und Seitensprungagentur Lovepoint.de aus dem Jahr 2009 mit über 1000 Befragten 92 Prozent der Frauen von Fesselspielen und sanften SM-Inszenierungen (bei Männern waren es nur 54 Prozent), jedoch hat der Fifty-Shades-Erfolg scheinbar zumindest in Deutschland bei Herstellern, die auf SM-Zubehör spezialisiert sind – im Gegensatz zu einer gestiegenen Nachfrage nach Sex-Spielzeug generell und den im Film thematisieren Liebeskugeln bei eher kommerziellen Herstellern – keine größere Nachfrage ausgelöst: „Unsere Kunden lesen, wenn überhaupt, ganz andere Sachen“, sagt Marco Simmat vom Versandhandel SM-Toy in Berlin. Beim amerikanischen Erotikversand Babeland hingegen sei der Umsatz für „Bondage Tape“ um 1500 % gestiegen.
Bekanntlich ist es ja nun auch so, dass zwischen Fantasien einerseits und deren Umsetzung in der Realität noch ein paar Schritte liegen, die von den meisten Fifty-Shades-Lesern oder Zuschauern wohl nicht und wenn dann eher in „kleinen Schritten“ gegangen werden und ihren Endpunkt vermutlich eher beim Fesseln mit Handschellen und ähnlichem und nicht im S-M-Kerkerraum mit Folterinstrumenten und bei Stromschlägen finden, so meine Vermutung.
Was vor allem aber deutlich wird und hierfür stehen die in der RTL Dokumentation gezeigten „Fans“ beispielhaft ein hysterisch anmutender Fankult mit ausgeprägten Identifikationen, vor allem mit der weiblichen Protagonistin, aber auch mit der Liebegeschichte und sexuellen Thematik (wobei die S-M-Thematik in der Regel nachrangig erscheint).
Der Hype um Shades of Grey scheint doch vor allem Ausdruck des vorwiegend weiblichen Wunsches nach einer offeneren Thematisierung und Auslebung von Sexualität grundsätzlich. Sexualität ist längst und auch schon vor Mr. Grey ein vor allem bei Frauen wichtiges Lebensthema, über das man zunehmend offen spricht. Eine vom 0-8-15-Schema abweichende Sexualität kann dabei auch einem Gefühl der Selbstverwirklichung dienen. Und Selbstverwirklichung ist ja gesellschaftlich ohnehin „hoch im Kurs“. Es geht um den Wunsch nach Genuss, nach Lebensqualität. Dabei scheint die weibliche Sexualität ja bekanntlich auch etwas komplexer gestrickt, als die männliche, weshalb ein „Soft-Porno“ wie Shades of Grey, der noch stark mit einer Liebesthematik und vor allem einer „Geschichte“ neben der Sexualität verbunden ist, für Frauen das Pendent zu der von Männern konsumierten Pornographie. Dabei klingt es zunächst ein wenig paradox, dass gerade ein Buch oder Film, bei dem es um den sexuellen Inhalt Sadomasochismus geht, ein Softporno sein soll. Soft eben deshalb, da so stark mit einer Geschichte verwoben und bei wenig explizit sexuellen Szenen. Frauen dürfen im 21. Jahrhundert nun endlich auch sexuelle Wesen sein, ohne sich dafür schämen zu müssen. Es scheint, als ob etwas, das so lang zensiert und nicht lebbar war – nämlich der Wunsch nach offenem Umgang und Ausleben von Sexualität bei Frauen – wie ein Vulkan ausbricht. Shades of Grey trifft diesen „Nerv“. Dabei ist die S-M-Thematik dazu geeignet, dem Ganzen noch mehr Dynamik dadurch zu verleihen, dass sie etwas –für den Durchschnittsbürger – Neues, Außergewöhnliches und Verruchtes ist. Nur wenige Konsumenten des Soft-Pornos werden sich wohl zu praktizierenden Sadomasochisten entwickeln.
Sexualität ist sowohl für Männer wie auch Frauen ein wichtiger Lebensinhalt, ein „biologisches Programm“, ein Grundbedürfnis, wenn nichts das ultimative Grundbedürfnis. Vielleicht hatte Freud ja doch Recht. Und deshalb gilt:„Sex sells“, das ist an sich ja nichts Neues.
Soweit die sexuelle Komponente.
Darüber hinaus handelt es sich bei Shades of Grey in erster Linie um eine Liebesthematik, allerdings um eine spezielle und ebenfalls –für den Durchschnittsbürger – neuartige, unbekannte. Es geht in der Beziehung der beiden Protagonisten, wie ja vielfach schon dargestellt, nicht in der Hauptsache um Sex, sondern es geht um das Aushandeln von Autonomie in der gesamten zwischenmenschlichen Beziehung. Es geht um das Aushandeln von Nähe und Distanz. Der sexuelle traumatisierte, bindungsgestörte Mr. Grey ist bestrebt, totale Kontrollausübung über sein Objekt der Begierde zu etablieren, er reagiert krankhaft besitzergreifend und eifersüchtig, er überwacht jeden Schritt seiner „Fastfreundin“. Explizit wird dies im Film auch – und nicht nur versehentlich – so dargestellt und nebenbei fragt man sich, was die Autorin ursprünglich mit dieser Darstellung bezwecken wollte. Wollte sie auf psychische Krankheit aufmerksam machen, oder war diese nicht vielmehr notwendig, um dem Buch/Film überhaupt ein emotionales Thema zu verleihen? Was wäre das Ganze ohne die traumatische Vergangenheit des Protagonisten? Man hätte einen psychisch Gesunden, mit sich im Reinen lebenden, erfolgreichen Mann, der zu seiner sexuellen Vorliebe und seinem Kerker steht und versucht, die junge Studentin, die er begehrt, durch Manipulation für seine Vorlieben zu gewinnen. Das jedoch widerspräche einer Liebesgeschichte, wie Menschen sie lesen oder sehen wollen, fundamental. Der Wunsch des Lesers, dass die beiden sich am Ende glücklich vereint bis in alle Ewigkeit „kriegen“, wäre so überhaupt nicht konstruierbar, da Hr. Grey dann nicht mehr als Mensch, der trotz seiner Manipulationen im Kern doch „ein Guter“ ist und Gefühle hat, wahrgenommen werden könnte. Er muss also „menscheln“, weshalb man ihm eine psychische Wunde bzw. Störung verpasst hat. Und durch diese kann die Hoffnung, ihn am Ende durch „Liebe“ heilen zu können, aufrechterhalten werden.
Die Sehnsucht nach dem starken Mann…
…postuliert die Psychologin Maja Storch bei der emanzipierten Frau von heute, vermutlich zum Leidwesen aller Feministinnen. Evolutionspsychologen gehen von dieser Sehnsucht nicht nur bei der emanzipierten, sondern bei der Frau generell aus, denn Frauen bevorzugten nach dieser Theorie bei der Partnerwahl intuitiv Männer mit einem hohen sozioökonomischen Status, der materielles Einkommen und gesellschaftliches Ansehen umfasst, da von solchen Männern ein hohes Investment in die Nachkommen erwartet wird. In diesem Sinne würde dann auch der Shades-Erfolg bei Frauen erklärt werden können, wobei Mr. Grey ja nur vordergründig als starker Mann imponiert, seine emotionale Verfassung ja aber gerade von Bedürftigkeit und Unreife gekennzeichnet ist. Ein emotional starker Mann muss nicht manipulieren und kontrollieren, zumindest nicht in diesem Ausmaß.
Vielleicht ist es auch die Mischung aus dieser nur oberflächlichen Stärke und der dahinterliegenden Bedürftigkeit, welche die Frauen emotionalisiert und beben lässt. In jedem Falle ist Mr. Grey emotional fast unerreichbar, schwer zu haben, aber dennoch ist es nicht unmöglich, ihn zu „gewinnen“. Dass die Geschichte mit dem ersten Teil nicht endet, ist für ihren Erfolg geradezu essentiell und wir sind wieder beim Thema der Liebesgeschichte angekommen, die so entscheidend für eben diesen Erfolg ist. Bei genauer Betrachtung findet man neben dem Aushandeln von Autonomie noch eine weitere wesentliche zwischenmenschliche Thematik, nämlich die emotionale Eroberung des Mannes durch die Frau. Und eine solche Eroberung kann nur in mehreren Akten stattfinden, denn sie muss scheinbar anstrengend sein, um sich am Ende wertvoll anfühlen zu können. In diesem Sinne geht es um den narzisstischen Triumph der Frau, die den Mann am Ende emotional zu Strecke gebracht und hierfür zuvor selber zahlreiche Leistungen erbracht hat. Sie hat verhandelt, sie hat sich in Teilen unterworfen, sie hat sich ihm immer wieder entziehen müssen, um für den Mann noch begehrenswerter zu werden.
Aus psychologischer Sicht würde man sagen, es geht hier um eine vorwiegend narzisstische Psycho-Pathologie, die vom Leser und Zuschauer scheinbar so geliebt, aber als Liebesgeschichte verkannt wird.
Und abseits der speziellen Theorien über das Verhältnis von Mann zu Frau und über die weibliche Sexualität lässt sich eines doch mit Sicherheit ganz global feststellen: Außergewöhnliche fiktive Geschichten bringen die notwendige Abwechslung in den weniger außergewöhnlichen Lebens- und Liebesalltag des Normalbürgers, regen die Fantasie generell an und lassen für einen Augenblick durch Identifikationsmechanismen ein Gefühl eigener Größe und Bedeutsamkeit entstehen. Auch in diesem Sinne ist der Erfolg der Shades-Reihe zu verstehen. Es ist die Mischung aus den genannten Faktoren. Handschellen dürften zwar wohl in der heutigen Zeit in jeder zweiten Pärchenschublade ihren Platz gefunden haben; dass aber Sadomasochismus, der regelmäßig und in einer gewissen Intensität gelebt wird, nicht auch weiterhin eine ungewöhnliche Sexualpraktik bleibt, sehe ich nicht.
Die Sadomasochistenszene begrüßt jedoch die durch die Shades-Bewegung ausgelöste Offenheit und Toleranz ihrer präferierten sexuellen Praktiken. Gleichzeitig grenzt man sich von ihr ab und betont die Freiwilligkeit, Autonomie und klaren Grenzsetzungen bei praktizierenden Sadomasochisten. So trennt auch die Psychologin Lydia Benecke zwischen psychischer, häuslicher und sexueller Gewalt, sexueller Nötigung und Körperverletzung, welche sie bei Shades of Grey sieht und einvernehmlichem BDSM, welcher in ein „schlechtes Licht“ gerückt werde. BDSM sei eine „Gemeinschaft, die an Sicherheit und Geborgenheit glaubt. Einwilligung ist immer notwendig und Partner kümmern sich um einander. Nach Handlungen und Rollenspiel sind die Partner gefühlsmäßig füreinander da, um sich beim Übergang aus dem Spiel zu helfen.“
Bloß nicht pathologisieren?
Im internationalen statistischen Klassifikationssystem der Krankheiten ICD-10 wird Sadomasochismus nach wie vor unter F65.5 und den Störungen der Sexualpräferenz als Störung definiert. Das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM“ (American Psychiatric Association) fordert im Gegensatz zum ICD-10 neben dem Vorliegen dieser sexuellen Präferenz, dass „die Phantasien, sexuell dranghaften Bedürfnisse oder Verhaltensweisen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen.“ In der Diskussion wird zudem häufig auch das Kriterium, ‚Anders als durch die Ausübung sadistischer oder masochistischer Praktiken kann keine sexuelle Befriedigung erlangt werden‘ genannt. Dabei besteht in der Praxis die Schwierigkeit zu definieren, was Leidensdruck oder Beeinträchtigungen ausmacht. So kann beispielsweise Scham bis hin zu Selbstablehnung im Anschluss an S-M-Praktiken auftreten, jedoch scheinen gerade die Merkmale des Leidensdrucks und der Beeinträchtigungen in der Lebensgestaltung nicht unmaßgeblich auch von der gesellschaftlichen Einstellung beeinflusst. In einer Gesellschaft, in der auch sadomasochistischen Praktiken akzeptiert und nicht stigmatisiert werden, kann zwar beim Individuum dennoch aus anderen Gründen innerer Leidensdruck aufgrund der Sexualpräferenz entstehen, aber der Leidensdruck dürfte insgesamt gesehen bei Sadomasochisten deutlich geringer ausfallen. Der Leidensdruck beim Durchleben einer depressiven Episode beispielsweise dürfte hingegen zwar auch, aber weniger gesellschaftlich determiniert sein, sondern vielmehr mit der Krankheit bzw. den psychischen Phänomenen dieser Krankheit zusammenhängen.
Nach einer Studie von Wismeijer und anderen (2013) sollen Menschen, die „Sado-Maso-Praktiken im Bett gegenüber nicht „abgeneigt“ sind, in einer besseren psychischen Verfassung sein, als „Verfechter“ von gewöhnlichem Sex. Begründet werden könne dies z.B. damit, dass diese Menschen bereits Erfahrungen damit haben, ihre eigenen, gesellschaftlich wenig akzeptieren Präferenzen selber zu akzeptieren und sich insgesamt intensiv mit sich und ihrer Gefühls- und Bedürfniswelt auseinandergesetzt hätten. Da aber SM- Gemeinschaften seit Jahren dafür kämpfen, dass „harmlose“ sexuelle Vorlieben nicht mit psychischen Störungen in Verbindung gebracht werden, muss man bei derartigen Umfragen/Studien natürlich auch die vermutlich hoch ausgeprägte Motivation, sich selbst als möglichst ausgeglichen und gesund darzustellen und auch wahrzunehmen, berücksichtigen. Relevant sind hier natürlich Antworttendenzen von sozialer Erwünschtheit und Dissimulation, sodass mir derartige Studienergebnisse nur begrenzt interpretationsfähig erscheinen.
Grund zur unkritischen pauschalen Verharmlosung sadomasochistischer Sexualpräferenzen gibt all dies jedoch, so meine ich, nicht her. Zu leicht und gerne „übersehen“ wird bei der Mainstreamisierung sadomasochistischer Thematiken, dass immerhin bei dieser Form der Sexualität körperliche Gewalt ausgebübt wird und zwar bei sog. „Fortgeschrittenen“ und in nicht-softer Form von „blutig Schlagen“, Zufügen von Stromschlägen, Freiheitsberaubungen, Brandings (Brandzeichen), Haut aufschlitzen, Nägel in die Haut schlagen, Anwendung von Kerzenwachs, der bleibende Brandwunden verursacht, Atemspiele mit Würgetechniken oder stundenlänge Schläge und Ähnlichem. Man übersieht dies, da man softe S-M-Praktiken mit Sadomasochismus generell gleichsetzt, ohne, dass man hinter die Kulissen der Szene, die über „einen Klaps auf den Po“ hinausgeht, schaut und die ja auch bei Shades of Grey lediglich angedeutet bleibt.
Die moderne Psychiatrie und Psychotherapie ist – zum Glück – weit davon entfernt, sexuelle Präferenzen vorschnell zu pathologisieren; das ändert sich auch nicht dadurch, dass die Diagnosen in den beiden diagnostischen Manualen (s.o.) existent sind. Psychische Erkrankung wird immer durch das Vorhandensein von Leidensdruck und Beeinträchtigungen in den Lebensbereichen definiert. In der Praxis wird die Diagnose Sadomasochismus so gut wie niemals vergeben, zu sehr muss man sich als Arzt oder Psychologe auch davor fürchten, unmoderne und schlechte Diagnostik nachgesagt zu bekommen.
Die Diagnose existiert quasi nur noch auf dem Papier, in den Manualen.
Die Podcaster Dr. Jan Dreher und Dr. Alex Kugelstadt kommen in ihrem „Psychcast“ auf eine Zuhörerfrage hin zu dem Schluss, dass es sich bei Sadomasochismus nicht um eine psychische Störung handelt. Daneben war aber spürbar, dass die beiden eigentlich gar nicht so gerne über diese Thema sprechen wollten, was ich vor dem Hintergrund der eben erwähnten spürbaren Unsicherheit in Fachkreisen verstand. Neben meiner RTL-TV-Erfahrung war dies für mich der Anlass zu diesem Artikel.
Ich bin nicht der Auffassung zu der allgemeingültige Annahme, Sadomasochismus sei keine psychische Störung, sondern denke schon, dass Sadomasochismus die Gestalt oder zumindest einige Merkmale psychischer Erkrankung annehmen kann.
Durch Unkenntnis der Szene und Unkenntnis über die tatsächliche psychologische Verfassung von Menschen, die regelmäßig sadomasochistische Sexualpraktiken leben, kann übersehen werden, ob und in welcher Form es gegebenenfalls es bei diesen auch zu einer Ausweitung einer ungesunden Dominanz-Unterwerfungsthematik im zwischenmenschlichen Miteinander oder anderer, „unentdeckter“ psychischer Probleme kommt, die durch die sadomasochistische Sexualität überdeckt und durch diese auch kompensiert werden können, ohne, dass man sich je mit möglichen problematischen inneren Zuständen beschäftigt. In diesem Sinne kann die ausgelebte Sexualität auch zu einer psychischen Entfremdung von sich selbst beitragen und nicht bearbeitete Probleme sozusagen „zudecken“. Wenn der „Kick“, die somatische und psychische Sensation, so sehr an Bedeutung gewinnt und der Partner zur Nebensache dieser Praxis wird, dann ist Sadomasochismus zu einer zielorientierten Technik geworden. Doch das macht noch nicht zwangsläufig Krankheit aus, denn auch in Beziehungen mit Sexualität in anderer Gestalt kann und wird ein solches Phänomen vermutlich nicht allzu selten auftreten und Sexualität wird in erster Linie mechanisch gelebt. Dennoch scheint man in nicht wenigen S-M-Beziehungen beobachten zu können, dass die Partner emotional abhärten und eine „Dosissteigerung“ für ihren Kick benötigen. S-M wird dann nicht selten auch zum zentralen Lebens- und Beziehungsinhalt, der von der Beziehung an sich „ablenkt“ und Beziehung an sich findet so gut wie gar nicht mehr statt. Die Rollen der S-M-Beziehung werden zur Beziehungsvermeidung genutzt. Die Sehnsucht nach willenloser Unterwerfung und der absoluten Herrschaft über einen anderen Menschen gipfeln in der SM-Szene in den sogenannten 24/7 Beziehungen (7 Tage die Woche 24h S-M-Beziehung im gegenseitigen Einvernehmen). Auch S-M-ler, die sich hauptsächlich in anonymen Settings und Beziehungen, in Clubs und auf Dating-Seiten aufhalten, zeigen häufig ein sexuelles Verhalten, das ausschließlich an Kicks orientiert ist. Viele streben dann eine kontinuierliche Steigerung der „Dosis“ an. Es werden immer stärkere Reize aufgesucht, um denselben Rausch, denselben Kick zu erleben, was ein Merkmal suchtartigen Verhaltens darstellt. Dies birgt darüber hinaus das Risiko einer Verrohung des emotionalen „Haushaltes“ generell und der Liebesfähigkeit. Dass es sich bei diesen Dynamiken um Einzelfälle handelt, glaube ich persönlich nicht. Aber wie das immer so ist mit dem Glauben und der subjektiven Wahrnehmung. Zahlen gibt es nicht. Studien haben mit dem Problem der Einflussvariablen „soziale Erwünschtheit“ zu kämpfen.
Als Psychologin sehe ich mich in diesem Sinne schon in der Pflicht, auch auf diese weniger populären Anteile sadomasochistischen Sexuallebens hinzuweisen und mich der Mainstream-Meinung, die Sadomasochismus dadurch, dass sie softe Praktiken mit S-M allgemein gleichsetzt und die darüber hinausgehenden Praktiken ausblendet, „salonfähig“ macht, nicht unreflektiert anzuschließen.
S-M ist durch Shades of Grey ein wenig „en vogue“ geworden. Dabei ist aber meist ein softer, „gesellschaftsfähiger“ S-M gemeint. Eine allgemeine sexuelle Verrohung ist vorerst nicht zu befürchten.
Literatur:
Wismeijer, A. & van Assen, M. (2013). Psychological Characteristics of BDSM Practitioners. The Journal of Sexual Medicine, 10, 1943–1952.
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Hi!
Das ist ein außerordentlich interessanter und differenzierter Post. Und Du hast recht, in unserer PsychCast Folge zum Thema Sexualität haben wir den soft-SM-Bereich gemeint, als wir sagten, dass gehe den Psychiater nichts an, das sei normal, gesund und OK. Dass es darüber hinaus – sehr viel seltener – eine Menge Wege in die Tiefen echten Leides gibt, ist natürlich richtig und darf nicht übersehen werden.
Beste Grüße,
Dein Jan vom PsychCAst.
Lieber Jan, vielen Dank, das freut mich. Leider viel mir den Kommentar unter 1000nden von Spam Posts erst jetzt auf, sorry.
Hallo Esther,
deine Wahrnehmung kann ich hier nicht so ganz teilen. Zum einen erscheint mir die Grenze, die du zwischen „soft SM“ und „SM“ ziehst sehr fließend und ein wenig künstlich zu sein.
Aber viel wichtiger: Als jemand, der in der SM-Szene sehr aktiv ist, sehe ich dort auch bei Menschen, die extremere Praktiken bevorzugen als sanftes Tätscheln, üblicherweise ein sehr starkes Eingehen auf den Partner / die Partnerin und seine / ihre Bedürfnisse. Die allermeisten SMler sind in ihren Beziehungen sehr liebevoll und scheinen sich näher zu stehen als viele „normale“ Paare, dich kenne.
Auch bei Praktiken, die ich selbst ablehne, Cutting oder Spiele mit Nadeln, wird stets auf ein weitgehend sicheres Spiel geachtet. Sterilität der Instrumente. Hygiene.
Und zu BDSM gehört auch immer die Nachsorge. Das Kümmern um den Partner / die Partnerin nach dem Spiel. Um wieder zurück in die Realität zu kommen.
Gibt es negative Ausnahmen? Ganz bestimmt! Aber sind destruktive, toxische Beziehungen unter SMlern häufiger? Das glaube ich nicht.
Lieber Gruß
Sebastian